Fischer im Recht / Medien
Die Lügenpresse
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Eines ist sicher: Jeder hat seine eigene Wahrheit. Was öffentliche Wahrheit ist, bestimmt die Kommunikation. Doch wer hat jetzt recht?
Veröffentlicht am 2. Februar 2016, 16:51 Uhr 1.053 Kommentare
Liebe Leser! Ich muss Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Was Sie hier lesen, ist ein Text über Lügenpresse. Er erscheint – wo sonst? – in der Lügenpresse, also außerhalb der "Wahrheit" dessen, der es für erwiesen hält, dass die Lügenpresse immerzu Lüge anstelle von Wahrheit verbreitet. Aber was hat der Lügenpresserufer selbst zu bieten? Wenn alle Presse Lüge ist, bleibt für die Wahrheit doch nur noch das eigene Tagebuch. Das ist kein Weltniveau, das ist kein Vaterland, das ist gar nichts. Und das weiß auch jeder. Die Sache muss also neu aufgerollt werden.
Frage eins: Was ist Wahrheit, was ist Lüge? Und woher wissen wir das? (Ein fast unauflösliches Dilemma.)
Frage zwei: Kann es sein, dass das nicht neu ist? Haben wir nicht früher schon so etwas gehört?
Lügen
Lügenpresse und Strafrecht. Irgendwo muss man anfangen. Die sowieso schon alles wissen, "kräuseln die Mundwinkel" – so könnte es vielleicht unsere FAZ formulieren. Freilich: Nur Orang-Utans können die Mundwinkel kräuseln. Als leitende Persönlichkeit der Qualitätspresse kann man allenfalls so tun, als wisse man und sublimiere dies, dreidimensional, durch die Talkshow schnurstracks ins Nirwana.
Die FAZ könnte ferner sagen, irgendwo im Kosmos ihres Intellekts befinde sich ein Türchen, hinter dem eine Erkenntnis warte, welche dem Leser aus Bad Nauheim oder Sydney die tantenhaft hervorgehüstelte Sicht auf die Welt als bedeutend erscheinen lasse. Oh my God, schaudert es die zweite Gattin des ersten Vertreters des dritten Vorstands in Königstein: Hat Mario Draghi das tatsächlich gesagt? Muss ich den Gärtner abbestellen? Was soll aus unseren Söhnen werden?
Die nichts verstehen können, müssen leider draußen bleiben. Wer nichts verstehen will, ist unter dem Vorbehalt besserer Einsicht gleichwohl eingeladen.
Die reine Wahrheit
Deshalb hier zunächst: die reine Wahrheit.
Am 29. Januar 2016 veröffentlichte die FAZ – die Zeitung für nichts weniger als Deutschland – auf Seite eins einen kleinen Kommentar einer ihrer Herausgeber, Berthold Kohler, zu dem Handgranatenanschlag auf ein Asylbewerberheim in Villingen-Schwenningen: Dieser sei, so lasen wir,
"der Höhepunkt einer langen Reihe von Brandstiftungen und anderen Anschlägen... Offenbar waren nicht bei jeder dieser Straftaten fremdenfeindliche Motive im Spiel. Doch kann niemand daran zweifeln, dass die Migranten (…) Zielscheiben einer zunehmend terroristische Züge tragenden Gewalt werden. Der Staat muss sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen, denn auch von dieser Seite her wird sein Gewaltmonopol angegriffen."
Sie werden sagen: Ein FAZ-Text, wie er im Buche steht. Nicht die geringste Unkorrektheit zu erkennen. Ich sage Ihnen: Ein Kunstwerk. Ein Werk, das von der Farbe zwischen den Buchstaben lebt und mit Ihrem Unterbewussten ein güldenes Band der Innigkeit schließt. Aber auch ein Wahrheitswerk? Vermutlich haben nur wenige einen vertiefenden Blick darauf geworfen. Wir tun es, gerade wegen der im Nichts dahinmurmelnden Unauffälligkeit des Textes.
Ein (missglückter) Handgranatenanschlag soll "Höhepunkt von Brandstiftungen und anderen Anschlägen" sein. Wie das? Ist ein Weißbrot der Höhepunkt einer Reihe von Schwarzbroten? Sterben Menschen in gesprengten Häusern schöner als in brennenden?
"Offenbar" waren "nicht bei jeder dieser Straftaten" fremdenfeindliche Motive "im Spiel". Wenn "Motive im Spiel" sind, weiß der deutsche Journalist in der Regel nichts zu diesen Motiven, tut aber so. Der schlaue Leser weiß dies wiederum, der dumme aber weiß es nicht und denkt, der Journalist sei schlau. Die FAZ weiß es sogar "offenbar". Schwieriges Wort: Bedeutet es "offenkundig" (= für jeden erkennbar"? Oder bedeutet es "es scheint so, als ob" (= vielleicht)? Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass der Kommentator weiß, dass wir es nicht wissen. Deshalb schreibt er es ja. So bringt er mit einem klitzekleinen Nebelwölkchen in den Obertönen der Vokabel "offenbar" ein ganzes Weltgebäude ins Zwielicht. Anders gesagt: Nichts Genaues weiß man nicht. Aber wir machen uns Sorgen.
"Nicht bei jeder" Tat "spielten" fremdenfeindliche Motive mit. Interessant, Herr Kohler! Bei welcher zum Beispiel nicht? Und woher wissen Sie das? Was ist mit der Handgranatentat? War sie auch bloß der verspätete Silvesterhöhepunkt eines ewig zu spät Kommenden? Diente sie als Ersatz einer von der örtlichen CDU frech verweigerten Abrissgenehmigung? War sie Teil eines noch aufzuklärenden "familiären Hintergrunds"? Und vor allem: Welche anderen Spielmotive dürfen wir uns denken?
Es "kann niemand daran zweifeln"! Das ist der Höhepunkt: ein neuer, frischer Ton der Wahrhaftigkeit. Es "kann" (meint: darf) niemand daran zweifeln. Da sind wir knallhart, da haben wir uns entschieden. Jetzt müssen wir bloß noch sagen, welche Tatsache dem Zweifel entzogen sein soll: "Dass Migranten Zielscheiben werden". Ja, nun gut. Man hätte natürlich auch sagen können: Zielscheiben sind. Denn "werden" ist ja wieder so eine deutsche Zweifelsform – irgendwo zwischen dem Futur I von Sein und dem Präsens von werden. Denn das schöne Hilfsverb "werden" hat ja auch noch – der FAZ-Journalist saugt so was natürlich mit der Muttermilch ein – eine Nebenexistenz als Quasi-Hauptverb. "Was willst du denn mal werden?", fragt Tante Elfriede ihren kleinen Neffen, und Adolf H. "beschloss, Politiker zu werden". Hei, und schon wieder purzeln die Bedeutungen durcheinander! Gerade eben meinten wir noch etwas ohne Zweifel, und schon wissen wir nicht mehr, ob wir nicht das pure Gegenteil gesagt haben! Die Migranten: Sind sie nun, oder werden sie Zielscheiben?
Eine Zielscheibe ist eine Scheibe, auf die man zielt. In der Mitte des Migranten ist ein schwarzer Punkt, das ist die Zehn. Außen ist weiß, da ist die Null. "Migranten werden Zielscheibe": Auf diese Metapher muss man erst kommen. Der normale – sagen wir: mitfühlende, analytische, empathische – Mensch würde sagen: "Migranten werden Opfer von Gewalt", oder "Migranten werden Ziel von Gewalt". Der Herausgeber der Zeitung für Deutschland sagt: Migranten werden "Zielscheibe". Wir sagen: Sigmund Freud, mach uns einen Termin!
Aber bitte: Zielscheibe für wen oder was? Wir haben den Akkusativ erwartet und bekommen den Genitiv: "einer zunehmend terroristische Züge tragenden Gewalt". Da kommt es ganz verdichtet! "Terroristische Züge". Mit den "Zügen" machen wir es uns hier einmal einfach, sonst bleibt kein Platz mehr: "Züge" = Gesichtszüge = Form. (Na ja.) Was ist terroristische Form? Hier wirft der Jurist einen Blick ins Strafgesetzbuch: Paragraf 129a – Terroristische Vereinigung ist eine Vereinigung, die sich zur Begehung bestimmter Straftaten bildet (siehe Kolumne der vergangenen Woche). Abs. 1: Mord und Totschlag. Passt. Abs. 2: Schwere Brandstiftung und Sprengstoffexplosion. Passt auch. Jetzt noch das "zunehmend". Wenn Sie, liebe Leserin, abends das Bad blockieren: Tragen Sie darin dann zunehmend die Züge von Angelina Jolie? Wenn Dr. Jekyll in den Keller hinab- und Mr. Hyde aus demselben emporschleicht: Trägt er dann zunehmend die Züge von Donald Trump?
Ein Sprengstoffanschlag ist "Höhepunkt einer langen Reihe von Brandstiftungen". Deshalb trägt die Handgranate "Züge" einer "zunehmend terroristische Züge tragenden" Gewalt. Es geht auch noch schlimmer. Die "terroristischen Züge" sind natürlich beim ersten Brandanschlag noch klein. Beim zweiundzwanzigsten auch. Beim vierhundertzwölften Brandanschlag denkt der FAZ-Leser darüber nach, ob die "terroristischen Züge" einen Schritt nach oben gemacht haben könnten, auf der nach oben offenen Skala.
Und jetzt, am Höhepunkt einer langen Reihe (scil.: Sie ist 1.000 Anschläge lang), müssen wir erschüttert feststellen: Es könnte sein, dass – vorbehaltlich anderer Erkenntnisse – sich ein Indiz dafür findet, dass dies alles kein Zufall ist, sondern tatsächlich "Züge trägt". Bitte sehr: Das heißt nicht, dass es schon Terrorismus ist. Sie, liebe Leserin, werden ja auch nicht Angelina Jolie, nur weil Sie aus einem bestimmten Blickwinkel bei Kerzenlicht deren Züge tragen. Die Vorverurteilung ist die Mutter der Lüge. Wer wüsste dies besser als die Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland?
- Wenn es aber nun doch am Ende einmal so wäre – was dann? Da kennt die FAZ kein Pardon: "Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln" muss der Staat zuschlagen, wenn es so wäre, wie es ist.
Was heißt das nun, verehrte Qualitätspresse? Was heißt das bei 1.000 terroristischen Anschlägen in einem Jahr, 350 im Untergrund lebenden, per Haftbefehl gesuchten Rechtsradikalen, einem NSU-Prozess in München mit vorerst zehn mutmaßlichen Mordopfern?
Zur Veranschaulichung gedenken wir der Leitartikel der FAZ nach dem zweiten Brandanschlag der RAF oder nach deren mutmaßlichem vierten Mord. Und versuchen uns vorzustellen, was man damals mit "Alle zur Verfügung stehenden Mittel des Rechtsstaats" gemeint hat. Wissen, ahnen, albträumen Sie, liebe Leser, was das ist? Haben Sie eine Vorstellung davon, zu was unser Staat – mit Ihrer Zustimmung oder ohne – fähig ist, um 350 potenzielle Terroristen zu fangen oder zu "Zielscheiben" zu machen?
Und jetzt, als Höhepunkt, die Kamelle-Kanone, die Strüssche-Granate: "Denn (!) auch von dieser Seite her", sagt Herr Kohler, wird "das Gewaltmonopol des Staats angegriffen". Mit "dieser Seite" meint er den rechtsradikalen Terrorismus, an dem "niemand zweifeln kann". Und wieder haben wir zwei nörgelige Fragen, eng verwoben:
- a) Was bedeutet ""Gewaltmonopol"? Ich meine das nicht allgemein, sondern im speziellen Zusammenhang. Ist jemals einer in diesem Land auf die Idee gekommen, die Ermordung Siegfried Bubacks oder Hanns-Martin Schleyers sei "ein Angriff auf das Gewaltmonopol des Staates"? Und deshalb müsse der Staat "mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln" gegen die Mörder vorgehen? Hat also, anders gesagt, irgendeiner jemals Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt vorgeworfen, sie hätten sich in Dinge eingemischt, die sie nichts angehen und für deren Erledigung eher der Staat zuständig sei? Darf man ernstlich schreiben, der rechtsradikale Terrorismus verletze, wenn er Migranten wegen ihres So-Seins ermordet, das "Gewaltmonopol des Staates"?
- b) Und was bedeutet: "auch"? Von welcher anderen Seite her wird "das Gewaltmonopol des Staates" denn sonst noch angegriffen? Wir können, beim besten Willen und allen Auslegungskünsten, nur eine dem Kommentar immanente Antwort finden. Sie lautet: Das Gewaltmonopol des Staates wird nicht nur von den rechtsradikalen Terroristen, sondern "auch" von deren "Zielscheiben" angegriffen, also den "Migranten". Das muss man erst mal ersinnen. In einem Kommentar der Zeitung für Deutschland zu einem Handgranatenanschlag auf ein Flüchtlingsheim.
Damit sind wir am Ende unserer kleinen Deutschstunde angekommen. Was hat sie uns gezeigt? Sprache ist eine komplizierte Sache. Wahrheit ist nicht immer das, was sie zu sein scheint. Sprache formt, gestaltet, interpretiert und erzwingt Wahrheiten. Und manchmal sind die bedeutsamen Windungen der vorgeblichen Meinung nicht mehr als deren schlichtes Gegenteil.
Die reine Lüge
Frau Frauke Petry, Abgesandte für die Rettung des Abendlandes, sagt statt "Lügenpresse" lieber "Pinocchio-Presse". Sie verdreht dabei die Augen nach innen und oben, damit jeder MDR-Gucker sehen kann: Sie macht gerade einen Witz. Zusätzlich kräuselt sie die Mundwinkel, aus Verachtung.
Um "Pinocchio-Presse" witzig zu finden, muss man allerdings, ehrlich gesagt, einen Intelligenzquotienten von unter 80 haben. Das weiß natürlich auch Frau Petry. Sie hält es "offenbar" für denkbar, dass draußen und drunten auf den Plätzen und Straßen des Abendlandes eine Mehrzahl ihrer Anhänger exakt diese Qualifikation aufweist.
Lü-gen-pres-se!, schreien nun seit 15 Monaten Zehntausende von Menschen durch die Nacht. Noch zehnmal mehr finden das gut, und schwören, dass die Presse lügt, und wollen daher 20 Prozent bei allen Wahlen, weil die Wahrheit ans Licht muss. Endlich, endlich!
Da kommen, liebe Bürger, unweigerlich gewisse Gegenfragen auf. Also zum Beispiel: Wie könnte ein Wahlgewinn von AFD und/oder NPD etwas daran ändern, dass die Presse lügt? Die löge ja selbst dann noch weiter, wenn Frau Petry Bundeskanzlerin würde und Herr Höcke ein kraftvoller Bundesminister des Inneren. Wie kommen wir um den verdammten Artikel 5 Grundgesetz bloß herum?
Zweitens: Sie schreien und schreien immerfort, dass alle lügen. Aber um welche Wahrheit geht es ihnen? Früher einmal, als Frau Petry noch Herr Lucke hieß, hörte man gelegentlich Sätze, die an Wirtschaftspolitik erinnerten, an Finanztheorien und irgendetwas dergleichen. Das ist ja nun vorbei. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der AfD besteht aus einer acht Meter hohen Mauer mit Hundelaufstreifen und Dreifach-Drahtzaun. Da wird es den deutschen Bürgern so richtig gut gehen in ihrer Republik hinter dem Antimigrantischen Schutzwall. Draußen stehen die Neger und werfen mit Bananen. Kleiner Scherz, nichts für ungut!
Was ich meine, ist Folgendes: Der sogenannte besorgte Bürger hört, sagt, liest in seiner Wahrheitspresse, dass die Probleme unseres Landes – die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen – vor allem durch Ausländer verursacht werden. Und dass wir deshalb keine Ausländer haben wollen, außer vielleicht ein paar Pizzabäckern und Müllmännern. Nun gut, das ist eine Meinung, die man haben kann oder auch nicht. Aber was hat das mit dem "Lügen"-Geschrei zu tun? Soweit ich erkenne, gibt es fast niemanden mehr, der inzwischen nicht öffentlich fordert, Deutschland müsse am Mittelmeer verteidigt werden.
Früher dachte ich, ein "Hotspot" sei ein geologisches Wunder auf dem Meeresgrund. Heute sehe ich die Augen der Staatssekretäre leuchten wie feurige Sonnen, wenn sie von den Hotspots anfangen, die wir in die Wüsten dieser Welt bauen: Lange Reihen ordentlicher Container, bis zum Horizont, die schnurgeraden Straßen der Planquadrate, die Essens- und Wasser-Ausgabestellen, die Waschräume, die Versorgungszentren … Ist das nun Lüge oder Wahrheit?
Drittens: Was, liebe Abendländer, soll eigentlich mit den Migranten des Herzens geschehen? Also den Deutschen, die heimlich Negermusik hören, Russinnen oder Thailänder heiraten? Dem Feind im Innern also?
Viertens: Was sagt der deutsche Unternehmer zu Ihrer Wahrheitsliebe? Welche blühenden Landschaften sollen Kleindeutschland ernähren und jedem Bürger sein ihm zustehendes 60-Zoll-Fernsehgerät finanzieren?
Hielte sie nicht die Bürger, die sie angeblich vertritt, für Vollidioten, müsste Frau Petry auf diese und viele andere Fragen eine Antwort geben. Irgendeine, außer: dass man die Wahrheit kenne, aber nicht verrate. Denn sonst müsste man annehmen, dass sie Angst hat vor ihrer eigenen Wahrheit.
Jedem seine Lügenpresse
Was ist die Wahrheit über Deutschland? Ich weiß es, ich weiß es!, ruft aus der zweiten Reihe Günter Wallraff. Das ist der Mann, der bei Bild Hans Esser war. Drei Bücher schrieb er über die Lügenpresse. Er bekam dafür Preise und viel Lob.
Die Tageszeitung, taz, weiß es auch: "Die 'Lügenpresse'", schreibt sie, "war ein Lieblingswort von Joseph Goebbels. Er verwendete es, um Kritiker zu denunzieren (...) Seither gehört der Begriff zum Standardvokabular der extremen Rechten in Deutschland. Dass er ausgerechnet auf der Straße von Menschen skandiert wird, die immer wieder betonen, keine Nazis zu sein, sagt einiges über die Pegida-Bewegung aus." Mein lieber Mann! Knallhart! "Sagt einiges aus!" Da zittert Pegida, und Graf Dracula-Goebbels zieht die Knochenhand flugs zurück in den Sarkophag.
"Bild lügt", lautete der Titel eines beliebten Druckwerks, und eines Plakats, und eines T-Shirts. Die "bürgerliche Lügenpresse" war, gleich nach dem Oberkommandierenden der Nato-Streitkräfte für Europa, der Lieblingsfeind der sogenannten Revolutionären Linken in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts. Der "Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten" (ID) informierte die imaginierten Werktätigen über den Ablauf der Revolution im Iran ("Kalaschnikow unter dem Tschador!"), der "Pflasterstrand" den Bornheimer und Westender Pastafreund über die Lügen der Frankfurter Rundschau. Die "Kommunistische Volkszeitung", Wort für Wort die reine Wahrheit, wusste mit absoluter Präzision über sämtliche Lügen der "Arbeiterzeitung" zu berichten. "17 Auszubildende im Streik wegen verstopfter Urinale!!", ging als Fanal gegen die schweigende Lügenpresse glatt durch. Der Lügenpresse-Entlarver von damals sitzt heute im Kaffee Einstein und sagt, er habe die Agenda 2010 entweder erfunden oder kommen sehen oder beinahe verhindert.
Die gepflegte Hochnäsigkeit, die der Intellektuelle angesichts des Stichworts "Lügenpresse" in sich erzeugt, steht also auf tönernen Füßen. Der Kampf des gebildeten Feuilletons gegen die dunklen Schatten aus dem Lügenreich von Bild, BZ, Express, Daily Mirror und Sun hält die Gewissen rein und die Nasen oben. Das ändert nichts an der Albernheit der Argumentation. Das Prinzip gilt nämlich immer für die jeweils Guten.
Die Wirklichkeit
Jetzt, zum Schluss, wird's schwierig: Was ist die Wirklichkeit? Anders gefragt: Können eine Million Einwohner von Pegidistan irren, wenn sie "Lügenpresse!" schreien? Sie wollen ja vermutlich nicht einfach nur blöd sein, oder Deutschland in den Abgrund treiben. Was, wenn sie recht haben? Um das zu beantworten, muss man überlegen: Recht mit was? Was für eine "Lüge" meinen sie, und was für eine "Presse"? Angeblich nimmt die Meinung der Herrschenden sich der herrschenden Meinung nicht genug an. Und wenn man ein bisschen nachbohrt, stellt man fest: Da ist einiges dran.
Wer nimmt sich derer an, die auf der Strecke blieben und bleiben werden in der "Agenda" 2010, 2020, Euro, Finanzkapital? "Hartz IV" ist unsere Antwort, oder "Außengrenzen sichern". Die neue Ökonomie, liebe Leserinnen und Leser, also die Weltordnung der blühenden Landschaften in der Form der Agenda "Jetzt oder Nie", definiert die Natur der menschlichen Gesellschaft nicht nach dem Bild des Immanuel Kant, sondern nach dem des Philipp Rösler: Jeder ist zu jeder Zeit mit jedem in Konkurrenz. Nicht Gleichheit und Solidarität ist das Ziel des Menschseins, sondern Ungleichheit und Sieg. Demokratie ist keine Form der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern von Marktmacht.
Dies und nichts anderes, verehrte Leser, ist die Kraft, die heute und morgen Milliarden von Menschen in kleine Boote oder winzige Raumschiffe zwingt. Nicht diese Menschen haben eine solche Weltsicht erfunden, sondern wir. Daher gehe ich zuversichtlich davon aus, dass Sie, wenn München Kinshasa wäre und Frankfurt Nairobi, lieber heute als morgen in Ihre SUVs und Jachten springen und Ihren verzogenen Gören ein Leben jenseits des Schlamms und der Gülle-Seen und der Trostlosigkeit von Hartz IV zu ermöglichen suchten.
Falls Sie sich das Gefühl von Verlassenheit noch nicht richtig vorstellen können, lesen Sie probeweise John Steinbeck: Früchte des Zorns. Oder schauen Sie die Verfilmung von John Ford an (mit Henry Fonda). Das ist mal ein Anfang, aber natürlich nur ein Stück Romantik vor dem New Deal. Die Bauern, die Sie da so sympathisch hungern und fliehen sehen, glauben nicht an Monsanto, sondern an das Drei-Generationen-Häuschen. Sie sind rührend in ihrer kindlichen Freude an Gerechtigkeit, Familie und Leitkultur.
Das können wir heute nicht mehr brauchen. Der Kapitalismus hat sich 80 Jahre weitergefressen, hat die Familien gesprengt, die Heimaten, die Treue. Unsere Kinder lernen nicht, um Kultur zu erfahren und weiterzugeben, sondern um ihr "Potenzial" zu entwickeln. Das Geld hat sich aus der Ökonomie verabschiedet und ein eigenes Sonnensystem gegründet. Jedermann ist für sich selbst verantwortlich. Niemand für den anderen.
Da kommen viele nicht mit, eine Welt vollendeter Konkurrenz produziert Verlierer in unvorstellbaren Massen. Die meisten von ihnen lungern da draußen in den Weiten umher, heißen "Ausländer" und verschleißen ihre Hoffnungen an den goldenen Pforten zum Paradies unseres Werbefernsehens. Ein paar haben wir auch hier.
Was ist die Wirklichkeit der Abgehängten? Seit Kanzler Gerhard Schröder verkündete, was ihm und den Talkrunden der Neunziger Jahre unvermeidlich schien, ist der Reichtum der Reichen in unserem Land explodiert wie niemals zuvor. Der sogenannte Mittelstand hat zugleich fast alles verloren, was sein Selbstbild ausmachte: Sicherheit, Bildung, Gemeinsinn. Das abgehängte Viertel schließlich hat erfahren, was seit 1949 verborgen war. Ihm wurde und wird gesagt: Die Deutschland AG ist für euch nicht mehr zuständig. Eine gemeinsame Aufgabe, euch zu retten, euch zu emanzipieren, euch wichtig zu finden, gibt es nicht mehr. Dafür kriegt ihr aber Hartz IV und RTL2 und notfalls Sachleistungen, wenn's sein muss. Und wenn ihr frech werdet, ein paar Hundertschaften Bundespolizei auf den Hals. Ihr dürft aber gern jederzeit nach Nigeria auswandern und dort Bergwerksarbeiter werden oder Aushilfe in der Fleischfabrik. Glückauf!
Pegida und AfD sind also am Ende nichts anderes als unsere eigenen, deutschen Ausländer. Klingt wie ein Scherz, ist aber keiner. Heimat- und trostlos ziehen sie durch die Städte und rufen "Lüge", wenn wir ihnen sagen, dass das Leben ist, wie es ist.
Nächste Woche: Medien II: Presse und Strafrecht