Fischer im Recht / Rechtspolitik
Frauenfilme zu Frauenwahrheiten und Frauenfragen
Eine Kolumne von Thomas Fischer
Diese Woche drei Themen aus den Urgründen des Rechts: das natürliche Opfer Gina-Lisa, der Endspurt im Kreuzzug der Frauenfreunde, die Stille am BGH
Veröffentlicht am 21. Juni 2016, 15:44 Uhr 1.961 Kommentare
Vorfilm: Gina-Lisa Lohfink
Zum journalistischen Tiefpunkt der Woche erklären wir folgende Passage aus einem Bericht der Frauenzeitschrift Brigitte online zum "Fall Lohfink":
Der Vorgang ist ein fatales Signal an die vielen Frauen in Deutschland, die sexuelle Gewalt erleben. Schon jetzt kommt es bei rund 160.000 Vergewaltigungen pro Jahr zu unfassbar wenigen Verurteilungen: ungefähr 1.000 (…) Was jetzt noch hinzu kommt: Frauen, die gegen ihre Peiniger aussagen, sehen sich nun auch noch der Gefahr ausgesetzt, dass sie wegen Falschaussage zu hohen Geldstrafen verurteilt werden können."
In diesen Zeilen purer Kenntnisfreiheit findet sich alles, was beim an Bürgerrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und journalistische Kompetenz glaubenden Menschen einen Brechreiz auslöst. Weder gibt es "160.000 Vergewaltigungen pro Jahr" noch "unfassbar wenige Verurteilungen": Beides ist frei erfunden. Dasselbe gilt für das angeblich "jetzt (!) Hinzukommende (!)": Dass Menschen, die andere Personen einer Straftat beschuldigen, allein deswegen selbst strafbar sein könnten.
In der Tat: Dass sich Menschen strafbar machen, die andere vorsätzlich falsch beschuldigen, steht seit 150 Jahren im Strafgesetzbuch. Und ist gut so. "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten", lautet das 8. Gebot aus Mosaischer Zeit. Überführte Täter werden freilich nicht "wegen Falschaussage" (die gibt's auch, ist aber eine andere Baustelle), sondern wegen "Falscher Verdächtigung" verurteilt, und man kann nach Paragraf 164 Strafgesetzbuch nicht nur "zu hohen Geldstrafen" verurteilt werden, sondern auch zu Freiheitsstrafen, liebe Brigitte, bis zu fünf Jahren. Verehrte Journalistenschulen: Darf man von einer Brigitte-Redakteurin des Jahres 2016 (noch) erwarten, dass sie einen (extrem übersichtlichen) Gesetzestext liest, bevor sie dessen Inhalt zitiert?
Voraussetzung des Paragrafen 164 Strafgesetzbuch ist, dass jemand einen anderen Menschen zu Unrecht beschuldigt, eine Straftat begangen zu haben. Es fällt einem spontan nicht sehr viel ein, was rechtspolitisch dagegen sprechen sollte: Wer andere Menschen absichtlich in die Gefahr bringt, aufgrund falscher Anschuldigungen jahrelang unschuldig im Gefängnis zu sitzen, darf (!) doch vielleicht seinerseits bestraft werden. Oder?
Unerhört, meint Brigitte online, unbeeindruckt von der Wirklichkeit: Jetzt werden auch noch "die Peiniger" (Plural!) des "Opfers" (Singular) gegen dessen Strafanzeige geschützt!
Das ist die Karikatur von seriösem Journalismus. Es ist das Betätigen einer polemisch-suggestiven Verdrehungsmaschine (wie sie auch von Pegida und der AfD betrieben wird) und der glatte Missbrauch von journalistischer Macht: Schuld und Unschuld, Täter und Opfer stehen für diese Art von Presse schon lange vor der Ermittlung fest. Woraus sich das der Journalistin mit solcher Evidenz erschließt, dass die primitivsten Regeln ihres Berufs und die simpelsten Einsichten des Verstands bei ihr nicht mehr wirken, ist unbekannt. Ich fürchte: irgendwie aus den Hormonen. Die Anzeigeerstatterin eines Sexualdelikts heißt selbstverständlich "Opfer"; das Opfer einer Falschverdächtigung hingegen heißt "Peiniger" – und ist deshalb erst Recht "Täter": Der Beschuldigte eines Strafverfahrens wird so gleich vorab zum Doppeltäter ernannt. Man mag das kaum "Journalismus" nennen. Es sollte heißen, was es ist: Hetze.
Bedenklich ist das dahinter sichtbar werdende System: "Scheißegal", sagt offenbar die Chefredaktion, "sag mir, wie viele Klicks Du kriegst, und ich sag Dir, was Du wert bist".
Nebenbemerkung: Kleine Belehrung für alle, die es vergessen haben, und für alle Journalisten, die an der Seite der ratlosen Leser dieser Welt Jahr für Jahr vergebens versuchen, das Rätsel des Geldstrafenwesens zu durchdringen: Eine Geldstrafe ist kein "Bußgeld", so wie eine "Zahlungsauflage" keine "Geldstrafe" ist. Diese Worte notorisch zu verwechseln, strahlt übrigens dieselbe Kompetenz aus, wie den Unterschied zwischen Siebenmeter, Elfmeter und Penalty nicht zu kennen.
Eine Geldstrafensumme ist so hoch, wie sie gemäß Paragraf 40 Strafgesetzbuch halt ist. Sie bemisst sich aus einer Anzahl von "Tagessätzen" (5 bis 360), multipliziert mit der Höhe des einzelnen Tagessatzes (ein Euro bis 30.000 Euro). Die Tagessatzhöhe ist ein Dreißigstel des Monats-Netto-Einkommens des Täters (abzüglich Unterhaltsverpflichtungen, Vorsorgeaufwendungen, Kreditverpflichtungen, und so weiter). Die Anzahl der Tagessätze bezeichnet die Länge der Zeit, die der Verurteilte, falls er nicht zahlt, "Ersatzfreiheitsstrafe" verbüßen muss.
Bei der Beschuldigten Lohfink beispielsweise sollen, wie man liest, 60 Tagessätze im Strafbefehl stehen und sich daraus eine Summe von 24.000 Euro ergeben. Das (stark heruntergerechnete) Nettoeinkommen dieser Beschuldigten müsste demnach bei etwa 400 Euro pro Tag (= 12.000 Euro pro Monat) liegen, was plausibel ist, denn als Mensch mit dem Beruf "Vorzeigen-von-dicken-Silikonbrüsten" sollte man schon deutlich mehr verdienen als der Präsident eines Obersten Bundesgerichts. Etwa so viel wie eine Staatssekretärin.
Deshalb ist die Gesamtsumme hier ein klein wenig höher als bei einer alleinerziehenden arbeitslosen Putzfrau, bei der das (bereinigte) tägliche Nettoeinkommen vielleicht 15 Euro beträgt. Eine freiberufliche Brigitte-Autorin, zu 60 Tagessätzen verurteilt, müsste vielleicht 2.400 Euro zahlen, eine Bundeskanzlerin 40.000 Euro, das weibliche Vorstandmitglied einer Dax-Aktiengesellschaft 200.000 Euro – alle für dasselbe Vergehen und bei 60 "Tagessätzen". So gerecht und sozial ausgewogen, sehr geehrte Brigitte, ist das deutsche Geldstrafensystem!
Falscher Film: In unheimlicher Mission
Hallo, alle Morgenmagazin-Gutelaune-Zuschauer vom 17. Juni! Die Behauptungen der Rechtsanwältin Christina Clemm aus Berlin, die hier wie auch sonst total uneigennützig unter dem Label "Opferanwältin" für sich warb und als Sachverständige aufzutreten pflegt, zur angeblichen Rechtslage im Sexualstrafrecht – und erst Recht zur angeblichen Rechtsprechungspraxis – waren einmal wieder nicht ganz zutreffend.
Frau Rechtsanwältin Clemm ist, wie man immer wieder lesen und hören darf, eine so genannte "Opferanwältin". Was das sein soll, weiß weder die Strafprozessordnung noch sonst jemand, außer denen, die sich ebenfalls "Opferanwalt" nennen. Opferanwälte sind – und darauf kommt es an – in jedem Fall die Guten, Opfer-Anwältinnen ergo die ganz besonders Guten: Praktisch un(über)treffbar. Denn wer könnte was dagegen haben, für die "Opfer" von bösem Tun zu sorgen und einzustehen, damit sie nicht durch die Justiz "traumatisiert" werden (vgl. auch Programm von "Nebenklage e.V.". Gründungsmitglied: Clemm).
Welcher bei Trost befindliche Mensch würde als Beruf "Täteranwalt" angeben? Welche Rechtsanwältin würde sich widerspruchslos öffentlich so nennen lassen? Wenn jemand von der Presse "Terroristenanwältin" oder "NSU-Anwältin" genannt wird, bricht der Sturm der Entrüstung los. Die "Opferanwältin", die genau dasselbe tut, nämlich die Interessen ihres Mandanten vertritt, hat sich in dreißig Jahren sprachlich an die Spitze der "Reform" geschlängelt. Der ideologische Rest ergibt sich zwanglos aus der Gleichsetzung von "das Opfer" und "die Frau".
Frau Clemm ist zweitens auch Mitglied der "Expertenkommission" zur Reform des Sexualstrafrechts. Das trifft sich gut, denn so kann sie in ihrer dritten Rolle als Wiederkehrende Sachverständige des Rechtsausschusses gleich kompetente Gutachten zur Bewertung der Vorschläge dieser Kommission einbringen. Wie Sie, liebe Leser, vielleicht wissen, soll diese Kommission im Herbst 2016 Vorschläge zu einer "grundlegenden Reform" des ganzen Abschnitts "Sexualdelikte" vorlegen. Angesichts der kaum noch beherrschbaren Welle von Sexualdelikten, die Deutschland bekanntlich überschwemmt und die Gesellschaft in ihrem Fundament bedroht, kann der "Gesetzgeber" – wie jene, die sich für den Gesetzgeber halten, täglich neu behaupten – aber keinesfalls so lange warten: Es muss sofort Abhilfe her, um wenigstens notdürftig das Schlimmste zu verhindern. Seit dreißig Jahren sinkt die Zahl der Sexualstraftaten kontinuierlich: Wann, wenn nicht jetzt, ist also allerhöchster Alarm vonnöten?
Am 1. Juni 2016 hat der Ausschuss wieder einmal eine Sachverständigen-Anhörung zum Thema durchgeführt. Das macht er sehr gerne, weil sich die Lage ja ständig ändert, also die Bedrohung der Frauen täglich wächst, sodass immer noch ein weiteres Grundlagen-Papierchen verfasst werden muss, in dem dargelegt wird, dass die gerade beabsichtigte Verschärfung keinesfalls ausreichen wird und natürlich nur ein "erster Schritt" sein kann. Da macht man dann eine kleine "Öffentliche Anhörung" im Bundestagsausschuss, damit die Sache auf die richtige Spur gesetzt wird und hinterher keiner sagen kann, man habe nicht das Menschenmögliche getan, um sich kundig zu machen. Dann wird die Sachkunde eines Wissenschaftlers – oder einer Person, die gern einer wäre – herzzerreißend und euphorisch gelobt vom Ausschussmitglied der Fraktion, die ihn geladen hat, nachdem er genau die Antwort gegeben hat, die man hören wollte.
Diesmal waren sieben Sachverständige geladen, darunter kein Zwerg und nur ein einziger Schwabe. Ihre schriftlichen Gutachten können auf der Website des Ausschusses nachgelesen werden. Nur so viel sei angemerkt: Es wurden ausschließlich solche Sachverständige gehört, die schon lange im Vorfeld dezidiert die Meinung vertreten hatten, es bestünden "gravierende Schutzlücken" und "erheblicher Reformbedarf". Man darf sie als "eingespieltes Team" bezeichnen. Sie treffen sich bei fast jeder Anhörung wieder und kennen ihre Gutachten vermutlich gegenseitig auswendig. Ihre Positionen leiten sie wechselseitig voneinander ab, indem etwa eine sachverständige Hochschullehrerin ein Gutachten im Auftrag des Vereins einer anderen Sachverständigen schreibt, die als dessen Sprecherin sodann dieses Gutachten lobt und preist, was wiederum die erste Sachverständige als Beleg für die Überzeugungskraft ihres neuen Gutachtens wertet – und so weiter. Das übliche Spiel also, wenn es mächtigen Lobbygruppen darum geht, "Breitseiten"-Schlachten zu schlagen, in denen keine Gefangenen mehr gemacht werden.
Gegenpositionen werden gar nicht mehr gehört und gelten bestenfalls als "gestrig", besser noch als "menschenrechts-" oder (ganz schlimm) als "frauenfeindlich". Die Vorsitzende des Ausschusses lobte öffentlich die überwältigende Überzeugungskraft der Gutachten schon zwei Tage nach Anhörung – und gewiss vor einer Beratung im Ausschuss.
"Wann, wenn nicht jetzt? – Sexuelle Selbstbestimmung von Frauen (!) umfassend schützen!", lautete die Pressemitteilung des Deutschen Instituts für Menschenrechte vom Februar 2016. Die Projektleiterin und "Studien"-Verfasserin dieser etwas rätselhaften Forschungseinrichtung darf bei der Sachverständigenanhörung nicht fehlen. Schon in der Initiativschrift der Kampagne "Schutzlücken bei der Strafverfolgung von Vergewaltigungen", beschrieb Frau Heike Rabe die geltende Rechtslage bei Paragraf 177 Abs. 1 Nr. 3 so: "Die Sicht der Betroffenen hat kaum eigenständige Bedeutung" (Seite 9) – also wieder einmal das glatte Gegenteil dessen, was die Rechtsprechung tatsächlich sagt.
Neben der Vorsitzenden der Strafrechtskommission des Juristinnenbundes Freudenberg (sie bezeichnete die Anzeigeerstatterin im Fall Kachelmann auch nach dessen Freispruch so lange weiter öffentlich als "Geschädigte", bis es ihr gerichtlich untersagt wurde) sitzt die Professorin, die das Gutachten für das Institut für Menschenrechte geschrieben hat, auf welches sich alsdann sowohl dessen Vertreterin Rabe als auch wiederum der Juristinnenbund berufen. Daneben Frau Ministerin a.D. Müller-Piepenkötter, Vorsitzende des Weißen Rings, sozusagen die Leibwerdung des ehrenamtlichen Berufsopfers. Spaßverderber würden nun wirklich bloß stören: deshalb keine Richter(innen), Strafverteidiger(innen), Soziolog(inn)en, strafrechtskritische Hochschullehrer(innen) …
Immer wieder frappierend – aber für derart sich selbst bestätigende Kampagnen typisch – ist die Tatsache, dass die Protagonisten des Spektakels , die unter normalen Umständen vernünftige und differenzierte Menschen sind, im Angesicht der weltgeschichtlichen Größe ihres "Anliegens" jede Rationalität in den Wind zu schlagen bereit sind. So gab etwa am 18. Januar 2016 Rechtsanwältin Clemm auf ZEIT ONLINE zu Protokoll: "Von einer feministischen Nation sind wir weit entfernt, sonst würde über sexualisierte Gewalt und deren Wurzeln öffentlich gesprochen."
Das meinte sie vermutlich ernst: In Deutschland werde über sexualisierte Gewalt und deren Wurzeln "nicht öffentlich gesprochen". Es handelt sich danach um eines jener "Tabus", das nun "endlich" einmal gebrochen werden muss. Nun wird man sagen dürfen, dass – außer vielleicht über terroristische Gewalt – in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland über kein Thema so viel, so permanent und so öffentlich gesprochen wurde wie über das Sexualstrafrecht, die sexuelle Gewalt und den sexuellen Missbrauch. Wie gelangen vernünftige Menschen zu solch bemerkenswert abwegigen Ansichten über die Realität? Wir treffen hier dasselbe Phänomen wie bei den "Pegida"-Bewegungen: Nach 25 Jahren "Einheits"-Gerede bis zur Erschöpfung wird beklagt, die Bedrückungen des ostdeutschen Menschen seien noch nie wirklich ausgesprochen worden.
Die Grenzen zum Fanatismus sind fließend. Irgendetwas "Höheres", eine "Sendung" wird betrieben und muss zu Ende gebracht werden. Und wie in einem unablässig weiter drängenden Strom charismatischer Erweckung erhebt sich aus dem Geschehen mal diese, mal jene Gestalt und schreit ihr ganz ihr persönliches "Vorwärts!" ins Getümmel. Also immer weiter, immer voran, nie genug! Auch das ganz neue Recht, das soeben durchgepeitscht wird, ist ja nur ein Vorläufiges, ja nur ein erster (!) Schritt: Im Herbst kommt das "Experten-Gutachten"! Heissa! Und dann die "grundlegende Neukonzeption". Und dann erst das Neue Paradigma! Und dann – vielleicht, eventuell – wird die Selbstbestimmung der deutschen Frau ein Niveau erreicht haben, das ihrer Sehnsucht genügt: Die Verschmelzung von Louboutin-Trägerin, Aufsichtsratsvorsitzender und ewigem Kind. Auf hohen Absätzen, doch immerzu missbraucht. Auf lukrativen Posten, doch immer noch zu kurz gekommen. Auf immer unverstanden sowieso: Kaum trippelt man selbstbestimmt im kurzen schwarzen Spitzenkleidchen übers Parkett, honigblond hochgesteckt, Augen bewimpert, Lippen geschürzt, Brust irgendwie gestützt – da starren frech schon wieder: Männer.
Das Netzwerk der flachbesohlten SPD-Genossinnen jenseits der 50 lächelt dazu feinsinnig, schiebt seine verdienten Schweigerinnen nach vorne und wartet ab.
Die Sendung Morgenmagazin der ARD strahlte am 17. Juni 2016, also vergangenen Freitag, ein Interview mit Frau Rechtsanwältin Clemm aus. Auszüge im Wortlaut:
Moderator Lorig: Wird sich mit der Verschärfung, der angekündigten, wirklich was für die Opfer, für die Frauen ändern?
Clemm: Ich hoffe doch sehr, dass sich endlich etwas ändert. Es ist ja so, dass im Moment es nicht ausreicht, wenn eine betroffene Person ganz klar sagt, ich möchte das nicht, ich will das nicht, wenn sie weint, und der Täter dennoch sexuelle Handlungen an ihr ausübt, dann ist es nicht strafbar.
Lorig: Sie sind zudem Mitglied der Expertenkommission im BMJ gewesen. Wir wissen alle, dass im politischen Prozess natürlich auch vieles zerredet und in Kompromisse geredet werden muss. Gibt es Sachen, wo Sie Angst haben, das fliegt am Ende wieder raus?
Clemm: Nein, ich denke, im Moment ist es ganz klar. Es haben alle politischen Parteien auch gesagt, wir brauchen tatsächlich eine Änderung, wir müssen endlich dieses Gesetz modernisieren. (…)
Lorig: Aber wie will man das denn vor Gericht beweisen?
Clemm: Die Beweisbarkeit ist sowieso ein großes Problem bei Sexualdelikten. Das ist auch klar. Die meisten Delikte werden in sogenannten Zweipersonenverhältnissen verübt. Wir haben eine Aussage-gegen Aussage-Konstellation. (…) Man wird die Tat schildern. Bisher ist ja Voraussetzung zum Beispiel, dass ich mit dem Tode bedroht werde und dann die sexuelle Handlung zulasse. Ob ich jetzt das beschreibe oder ob ich beschreibe, wie ich Nein gesagt habe und wie das Gegenüber erkannt hat, dass ich eine sexuelle Handlung nicht möchte, das macht keinen großen Unterschied.
Lorig: Aber da stellt sich für mich die Frage: Wie alltagstauglich ist denn das neue Gesetz überhaupt?
Clemm: Na ja, die Frage ist immer, welches Signal Sie ausgeben. Also gehen wir mal weg von der Beweisbarkeit. Nehmen wir mal an, es ist eine Tat, die ist gefilmt worden, ja? Das ist gefilmt, und wir haben ganz klar eine Situation, es gibt eine Frau, die von drei Männern, die mit drei Männern in einem Raum ist, und diese drei Männer üben sexuelle Handlungen an dieser Frau aus, und sie sagt immer wieder Nein, ich möchte das nicht. Sie weint, aber sie wehrt sich nicht, aus welchem Grund auch immer. Und es wird auch keine Gewalt ausgeübt. So, nun üben diese drei Personen Geschlechtsverkehr mit ihr aus, und das ist alles gefilmt. Im Moment ist es so: Selbst wenn es bewiesen wird, eben weil es diesen Video gibt, dann ist das nicht strafbar. Das würde sich ändern. Und das denke ich ist ein klares Signal. (…)
Lorig: Aber wird Grabschen auch dadurch zum Straftatbestand?
Clemm: Ja, das ist im Moment geplant. Meiner Ansicht nach würde es auch reichen, wenn man sagt: Jede sexuelle Handlung gegen den Willen ist strafbar. Aber es ist jedenfalls klar, also das muss man noch mal auch sich verdeutlichen, das, was eben in der Öffentlichkeit passiert, also wenn ich einfach von hinten greift mir jemand unter den Rock, an mein Geschlechtsteil oder unter die Bluse, an meinen Busen, dann ist es im Moment nicht strafbar, weil kein Nötigungsmittel angewandt wurde, sondern überraschend das geschehen ist. Und auch das soll natürlich in Zukunft strafbar sein.
Ein Interview, das es verdient, mehrmals und genau gelesen zu werden. Hinter jeder richtigen Aussage finden wir ein kleines schwarzes Loch, in dem die nicht gesagten "Abers" und die nicht erwähnten "Voraussetzungen" verschwanden. Aber die interessieren jetzt nicht mehr, so kurz vor dem großen Finale.
Sehr schön ist die "von der Beweisbarkeit weggehende", und wie von ungefähr fast Gina-Lisa-freie Film-Story. Ich weiß nicht, auf welchem Kanal Frau Clemm den Film "Drei Männer und eine aus welchem Grund auch immer weinende Frau" gesehen hat. Nicht eben ein Massenproblem mit dringendem Handlungsbedarf vor der Sommerpause, will mir scheinen.
Das Entscheidende ist hier natürlich die beiläufige Formulierung: "Sie weint, aber sie wehrt sich nicht, aus welchem Grund auch immer"; dieselbe Figur kommt schon im Eingangsstatement des Interviews vor. Um diese kleine Formulierung rankt sich ein ganzer Urwald aus Unergründlichkeiten.
Denn es verhält nun einmal so, dass dieses "warum auch immer" auf jeden Fall und auf jeden Fall auch weiterhin von ganz entscheidender Bedeutung ist und sein wird – mögen die Opfer-Expertinnen des Strafprozessrechts den Kaiserin-Sissi-Jodler ausstoßen, so oft sie wollen. Denn ausgerechnet auf das "Warum auch immer" kommt es leider gerade an – jedenfalls solange wir noch über ein (Straf)Recht sprechen, das den Menschenrechten, der Wahrheit und der Fairness verpflichtet ist.
Welche "Warum auch immer" fallen uns ein? Heute (nach geltender Rechtslage) ist es so: Wenn das Tatopfer sich nicht wehrt, weil es weiß, dass die Tür abgeschlossen ist und es keine Chance hat, zu entkommen: strafbar. Wenn es sich nicht wehrt, weil es konkludent bedroht wurde, und sei es nur durch Gesten oder im Vorfeld: strafbar. Wenn es sich nicht wehrt, weil es sich vor Gewalteinwirkungen fürchtet: strafbar. Wenn es sich nicht wehrt, weil es dazu aus psychischen Gründen oder aus physischen Gründen (Drogen, Alkohol, Geisteskrankheit, psychische Störung) unfähig ist: strafbar.
Die neue Lösung soll nun darin bestehen, dass das Aussprechen des Wortes "Nein" oder der Formulierung "Ich will nicht" irgendwie isoliert, begründungslos, zusammenhanglos neben dem sonstigen Verhalten des Opfers steht. Das ist Unfug. Handelt es sich um eine "offene", ersichtlich nicht von Nötigungshandlungen getragene Situation, wird man selbstverständlich (!) auch weiterhin das "Tatopfer" fragen müssen (!), warum es einerseits "nein" gesagt, andererseits aber widerstandslos getan hat, was der oder die Täter(in) verlangte. Alles andere wäre ein grober Verstoß gegen die gesetzliche Aufklärungspflicht. Denn das Aussprechen des Wortes "Nein" ist ja kein magisches Zauberritual, das die Deutung einer Situation ein für allemal festlegt und entscheidet. Wie jede andere Aussage in jedem anderem Zusammenhang kann das "Nein" oder "Hör' auf" ganz ernst, halb ernst oder gar nicht ernst gemeint sein; es kann überdacht, geändert, beeinflusst, aufgegeben, beschränkt, ausgeweitet, missverstanden werden.
Was denn sonst? Es gilt doch für das "Nein" (ebenso wie für das "Ja") im Zusammenhang mit sexueller Betätigung nichts anderes als im Zusammenhang mit wirtschaftlicher Betätigung, mit allen anderen Einwilligungen oder Zustimmungen. Meint jemand ernsthaft, die Fragen der Freiwilligkeit, des Wollens oder Nichtwollens, der Ambivalenz oder des Nicht-So-Wollens, der Abhängigkeiten und Zwiespältigkeiten, der Fehldeutungen und Umdeutungen, ließen sich durch eine Beweiserhebung darüber erledigen, ob das Wort "Nein" in der Geschichte vorkommt oder nicht? Es scheint fast so – aber das ist eine sehr alberne Vorstellung. Die Ansicht von Frau Clemm, es "mache keinen großen Unterschied", ob eine Bedrohung mit dem Tod (!) bewiesen werden müsse oder eine – wie auch immer gestaltete – Äußerung des Unwillens, zeigt gravierende Kenntnis- und Erfahrungslücken bei der sogenannten "Opferanwältin".
So viel also zur "Alltagstauglichkeit", also zur abermals versprochenen "Schutzlückenschließung". Bisher musste bewiesen werden, dass das Tatopfer nicht wollte und sich fürchtete. Nach neuem Recht muss bewiesen werden, dass es nicht wollte. In beiden Fällen zudem, dass der Täter wusste oder zumindest damit rechnete, dass es nicht wollte. Wer sich davon eine Flut von neuen Verurteilungen verspricht, muss an gravierenden Verkennungen leiden oder hat kaum Ahnung vom Strafprozess.
Beliebt in der Schlacht der Argumente ist ja die Analogie des Körpers mit Sachen wie: Geldbörse, Automobil, Wohnung (vgl. etwa SZ.online, 16. 5. 2016). Wir wollen jetzt hier nicht darüber streiten, ob das dummes Zeug ist und ob eine Person, die ihre Vagina mit ihrem Geldbeutel gleichsetzt, vielleicht nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, oder wie es wohl um die Menschenrechtssensibilität bestellt wäre, wenn sensible Menschen ihre Haut (Körperoberfläche), ihr Gehör, ihre Gedanken, ihre Ungestörtheit, ihre Verhaltensfreiheit im Allgemeinen "gleichsetzen" wollen würden mit ihrer "Karre" (SZ, a.a.O.), oder mit dem Rasenstück vor ihrem Häuschen… und also etwa meinen würden, ihr Menschenrecht gebiete es, dass störende Handlungen strafbar sind: Einfach weil niemand ernsthaft annehmen kann, dass ein Mensch oder zum Beispiel ein Kolumnist oder eine Opferanwältin jederzeit bereit seien, angefasst, vollgequatscht, auf die Schultern gehauen, an den Händen gezogen, zugelärmt, abgebusselt oder auch nur angeschaut zu werden, vom Geruch mal ganz zu schweigen. Womit wird wieder beim Schador und seinen menschenrechtlichen Implikationen gelandet wären, die uns im nächsten Gutachten das zuständige "Institut" gewiss erläutern wird…
Also fragen wir vorab, total scherzhaft natürlich: Wie oft, liebe Leser, hat sich in Ihrer Wohnung schon jemand befunden, den Sie lieber draußen als drinnen gesehen hätten? Und der/die das irgendwie ahnte? Waren das also alles strafbare Hausfriedensbrüche? Planten oder planen Sie größere Strafantragskampagnen? Und umgekehrt: Wie oft, schätzen Sie, waren Sie schon gegen den Willen einer anderen Person in deren Kinderzimmer, Wohnung, Haus, Büro? Fürchten Sie sich vor der Strafverfolgung? Nö, werden Sie sagen: Woher sollte ich denn das wissen? Na, aus dem konkludenten "Nein" des schweigenden Inhabers, antwortet die "Opferanwältin".
Mein Ratschlag, liebe Leserin: Schaffen Sie sich eine permanente Videoüberwachung an. Vor allem im Schlafzimmer. Vergessen Sie das Mikro nicht, sonst kann man das "Nein" nicht hören. Achten Sie aber bitte darauf, sämtliche Opfer vorab über die Aufzeichnung des Geschehens zu informieren und sich ein deutlich gesprochenes "Ja, bitte" aufs Band sprechen zu lassen. Sonst holt Sie der Paragraf 201 ein, kaum dass Sie aus dem 177 raus sind.
Weil das alles so ist, wie es ist, sage ich Ihnen, Leser, und den Kolleginnen und Kollegen Referats- und Unterabteilungsleitern beim Bundesopferjustizministerium voraus: Die Opferanwältin Clemm und sämtliche Lesben- und Frauenvereine und alle aus ungeklärten Gründen weinend Gefilmten werden so lange nicht den Zustand der strafrechtlichen Glückseligkeit erlangt haben und daher auch keine Ruhe geben, wie nicht 1. die Fahrlässigkeits-Strafbarkeit für Sexualdelikte (einen vielversprechenden Ansatz finden wir im "Eckpunktepapier" vom 16. Juni 2016:"…gegen den erkennbaren Willen"), und 2. die Beweislastumkehr erreicht sind. Bis dahin werden die deutschen Richterinnen und Richter, so ist zu befürchten, leider weiter versuchen, an den zivilisatorischen Grundprinzipien unseres Strafrechts festzuhalten: Zweifelssatz; Aufklärungsgebot; Fairness.
Ausblick:
Was knöpfen wir uns bloß nach der Sommerpause vor? Der Kolumnist hat schon wieder eine Idee: Kleine Kampagne zur Verbesserung des Schutzes von Eigentum! Sponsoring: Hans Werner Sinn, Allianz AG, Weißer Ring, Verband der Second-Hand-Läden. Man könnte als Mindesteinstieg eine Beweislastumkehr fordern für das Haben-von-Sachen: Jeder, der nicht beweisen kann, rechtmäßiger Besitzer einer Sache zu sein, ist Dieb/Unterschlager/Räuber.
Bevor Sie das höhnisch lachend abtun, überlegen Sie einen Moment: Ist Eigentum für den Menschen nicht ein existenzielles Rechtsgut? Darf das Eigentum schlechter geschützt sein als ein sekundäres Geschlechtsmerkmal? Darf es sein, dass der Silikon-Beatmungsschlauch eines Krebskranken schlechter geschützt ist als die Silikon-Brust eines Models? Was sind wir überhaupt für eine Gesellschaft?
Ein bisschen Empathie, wenn ich bitten darf. Denken Sie an die vielen alten, kranken Menschen, deren einziges wertvolles Eigentum das gerahmte Foto ihres lang verstorbenen Ehegatten ist! Jetzt sitzen sie da in ihren kalten Souterrain-Küchen, der letzte Scheit brennt herunter, die Kälte kriecht herein. Und plötzlich ist das Foto weg! Wie grausam muss eine Gesellschaft sein, die dem hämisch lachenden Foto-Dieb einen Pflichtverteidiger bezahlt, das Mütterchen aber sieben Stunden auf der Holzbank im Polizeipräsidium warten lässt? Frau Müller-Piepenkötter: Übernehmen Sie! …
Dokumentarfilm: Stille und Leere in der fünften Dimension
Und nun doch noch zu etwas ganz Anderem, aber nicht minder Dringlichem: Aus Anlass des kurz bevorstehenden Ablaufs des Monats Juni 2016 erlaubt sich der Kolumnist darauf hinzuweisen, dass ein Strafsenat des Bundesgerichtshofs seit mehr als anderthalb Jahren ohne Vorsitzenden Richter ist. Es handelt sich um den 5. Strafsenat. Er ist zuständig für die Oberlandesgerichtsbezirke Berlin, Brandenburg, Braunschweig, Bremen, Dresden, Hamburg, Saarbrücken und Schleswig, residiert in Leipzig und fällt meist nur dadurch auf, dass er jeder zweiten als "offensichtlich unbegründet" verworfenen Revision noch die "Bemerkung" anfügt, darauf, dass man irgendetwas auch anders hätte sehen können, komme es nicht an. Oder ähnliches. Das hat den Vorteil, dass die Sache dann als "begründete Entscheidung" gilt, also irgendwie wichtiger erscheint als eine bloße Formular-Verwerfung.
Der 5. Strafsenat führt in seiner durch wahrhaft nichts anderes als die hirnrissige Entscheidung der sogenannten "Föderalismuskommission" von 1990 – samt abwegiger "Rutschklauseln", die wie Naturgesetze behandelt werden – begründeten Splendid Isolation seit Jahrzehnten ein Leben, wie Richter es sich kaum schöner träumen können: Man trifft sich, nach Anreise vom Wohnort Berlin oder Hamburg, ungefähr alle zwei, vielleicht auch drei Wochen einmal in Leipzig, erledigt dort – "vorort" – zügig, was das ortsansässige Dezernat des Generalbundesanwalts beantragt hat, und eilt danach zur Fortsetzung der Exekution des Vieraugenprinzips zurück an Spree und Elbe. Die Bürger der neuen Bundesländer freuen sich sehr, dass der Oberste Gerichtshof an ihrem Aufbau so tapfer teilnimmt.
Wer nach 25 Jahren immer noch nicht zugeben möchte, dass die Sache eine veritable, aber bauhandwerklich lukrative Schnapsidee war – könnte das einfach auch anders herum denken, also nach dem Motto: Vom 5. Strafsenat lernen heißt siegen lernen.
Es soll doch jetzt bald der sogenannte "Westbau" des Bundesgerichthofs in der Karlsruher Herrenstraße kernsaniert beziehungsweise abgerissen und neu erbaut werden: Sehr teuer, sehr lange, sehr unerfreulich für die jahrelang "auszulagernden" Richter. Das könnte man doch anders regeln! Warum sollten der 1. bis 4. Strafsenat des BGH die leibhaftige Präsenz des Rechts nicht ebenfalls in ausgesuchten Städten ihres Zuständigkeitsbereichs verkörpern dürfen? München, Frankfurt, Hannover und Dessau-Roßlau sind doch schöne Städte! Bundesrichter aus ortsnahen Bundesländern könnten überdies im Kampf gegen die Akten entscheidende Zeitvorteile gewinnen. Bitte dringend mal drüber nachdenken!
Der 5. Strafsenat jedenfalls hat seit November 2014 leider keinen Vorsitzenden mehr. Er wird daher vom planmäßigen Stellvertreter (oder dem jeweils dienstältesten Richter) geleitet. Dieser Chefposten ist eine Aufgabe, die nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des BGH von Verfassung wegen nicht bloß formal zu verstehen ist, sondern sich dadurch auszeichnet, dass der Vorsitzende die "Leitlinien" der Rechtsprechung mittels überlegener Erfahrung und Sachkompetenz bestimmt, formt und prägt. Sie kann, von kurzfristigen Vertretungen abgesehen, ausschließlich durch planmäßig zu "Vorsitzenden Richtern" ernannte Richter geleistet werden.
Erstaunlich ist die Leere auf dem Stuhl des 5. Strafsenats nicht deshalb, weil sie ursächlich auf einige "Konkurrenten-Streitverfahren" bei der Richterwahl und -Beförderung zurückzuführen ist. Das ist in einem den Rechtsstaatsprinzipien verpflichteten Öffentlichen Dienst gewiss kein "Skandal", sondern ebenso legitim wie jeder Arbeitsgerichtsprozess und jede Klage, die ein Bürger vor dem Verwaltungsgericht erhebt, weil er sich von einer Behörde ungerecht behandelt fühlt.
Mittlerweile ist das – früher als gottgegeben angesehene – Gefüge des stillen Duldens und Dienens aus, in oder für die Gnade von Gerichtspräsidenten nämlich abgeschmolzen wie der Gletscher in der Klimakrise. Auch die Fragen des "Stils" haben an Dignität eingebüßt, seit Wachtmeister und "Tarifkräfte" auf offener Szene eine Meinung haben dürfen und kunstsinnige Bundesrichter mit Graecum plus Latinum ihr Sozialverhalten am Schema "Den einen grüß' ich, den andern grüß' ich nicht" ausrichten. Im Angesicht einiger weniger Dissidenten haben sie der Welt gezeigt, dass sie auch einfach Mensch sind, wie die Hempels auf ihrem Sofa.
Frappierend vielmehr ist die vollständige Stille, die über dem Geschehen liegt. Der eine oder andere Rechtshistoriker erinnert sich vielleicht: Vor vier Jahren gab es eine vergleichbare Situation. Damals leitete der Stellvertretende Vorsitzende des 2. Strafsenats – es war der Kolumnist selber – diesen Senat zehn Monate lang (nach Pensionierung der früheren Vorsitzenden). Als das Jahresende nahte, begann, auf Veranlassung des damaligen BGH-Präsidenten, ein unerhörtes Forschen, Klagen, Murmeln, Begutachten, Beraten und Entscheiden darüber, ob dieser Zustand überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Das Präsidium des Bundesgerichtshofs kam, auf Vorschlag des Präsidenten, ein ums andere Mal, und immerzu "einstimmig", zum Ergebnis, auf gar keinen Fall dürfe ein Senat über ein Jahresende hinaus ohne Leitung durch einen echten "Vorsitzenden Richter" verbleiben: Das mache alle Entscheidungen verfassungswidrig und somit anfechtbar. Für diese Rechtsansicht garantierten: der Präsident höchstselbst (samt Präsidialrichterin, Präsidial-Wissenschaftlicher Mitarbeiterin und Pressesprechern), der Vizepräsident, das stets "einstimmige" Präsidium, die "Vorsitzendenrunde". Also praktisch der ganze Berg Sinai.
Zu lösen, so entschied man auf Vorschlag des Präsidenten, sei das Problem einzig durch die Einrichtung eines "Doppelvorsitzes", also dadurch, dass ein anderer amtierenden Vorsitzender obendrein auch noch den 2. Strafsenat mitversorgte. Jede andere Lösung schien offenkundig unvertretbar. Richter, die anderer Auffassung waren, wurden – sagen wir mal – einer ziemlich unangenehmen Atmosphäre ausgesetzt. Das Richterdienstgericht des Bundes befand, so etwas müsse das bundesrichterliche Rückgrat locker aushalten (BGH, Urt. v. 14.02.2013, Az. RiZ 3/12 und 4/12). Die unabhängige Presse begleitete jenes Geschehen mit gewohnt hohem Sachverstand und schwankte zwischen "Skandal", "Chaos", "Schlammschlacht" und "Kampf der Giganten". Am Ende verläpperte sich alles.
So weit, so gut. Der Brunnen des Bundesgerichtshofs wurde seither restauriert und wieder restauriert. Der Rasen um den Brunnen wurde gemäht, und wieder gemäht, und erneut gemäht. Er wird überhaupt immer gemäht, kaum schickt ein Senat sich an, eine Beratung abzuhalten. Dann lärmen draußen die Mäher und die Kantenschneider raspeln und die Blassauger blasen, derweil drinnen der 2. Strafsenat bei geschlossenem Fenster und im Schweiße seiner Angesichte einen Vorlagebeschluss nach dem anderen abarbeitet. Eine Klimaanlage für hundert oberste Richter kann die Bundesrepublik Deutschland unmöglich finanzieren. Allenfalls einen gemähten Rasen für das Foto vom Palais.
Der 5. Strafsenat steht weiter verwaist. Am 1. November 2014 ging sein früherer Vorsitzender in Ruhestand, einst ein knüppelharter Verfechter der "Doppelvorsitz-Lösung". Schon bald neigte sich der jährliche Geschäftsverteilungsplan seinem Ende zu. Nichts geschah. Begründung: Na ja – zwei Monate (November und Dezember 2014) sind weniger als zehnMonate (Februar bis Dezember 2011) – murmel, murmel –; deshalb darf, entgegen einstigen Rechtsschwüren, der Stellvertretende Vorsitzende des 5. Senats von Verfassung wegen diesen nun halt doch wohl über einen Jahreswechsel hinaus führen! Seufz! Schnauf! Schwamm drüber.
Es kam und ging das Jahr 2015: das erste, zweite, dritte und vierte Quartal. Stille lag über Berlin, Leipzig und Karlsruhe. Es folgte, planmäßig: Beratung der Geschäftsverteilung für 2016. Länger als 12 Monate kann man in einem Jahr einen Senat schlechterdings nicht als Stellvertreter führen. Und nun auch noch das zweite Ende eines Geschäftsverteilungsjahrs: Entscheidung unumgänglich. Ergebnis klar, oder? (siehe 2012!)
Mitnichten! Beschluss des Präsidiums über die Geschäftsverteilung 2016: Kein Vorsitzender Richter im 5. Strafsenat: So ein Pech! Doppelvorsitz aber nicht erforderlich, sondern: Nichts veranlasst. Dabei hätte – das ist jetzt aber reine Spekulation – die Vorsitzende des 4. Strafsenats vermutlich ohne zu Zögern zur Verfügung gestanden. Ob man 600 oder 1.200 Akten pro Jahr liest, wusste sie 2012 als Präsidialrichterin, ist allein eine Frage des Wollens: Da muss man halt auch einmal ein Opfer bringen, Herr Kolleg', für das Ansehen des Gerichts!
Präsidiumsbeschlüsse werden nicht begründet. Informell fragen darf man aber. Antwort: Der Stellvertreter im 5. Strafsenat macht das doch ganz ordentlich. Und auf die Frage nach dem Verfassungsrecht: Wieso? Hat sich jemand beschwert? Nein. Strafverteidiger, immer hart auf der Spur des Verfassungsverstoßes, hatten gegen die erste Ansicht so viel wie gegen die zweite. Was sollen wir uns, so hört man, in Interna einmischen? Warum den "Gesetzlichen Richter" fordern, wenn's mir keiner zahlt?
Der 1. Juli 2016 steht bevor. Aus dem nebligen See reckt sich schweigend der Arm des versunkenen Helden mit dem Schwert des Triumphs. Der 5. Strafsenat hat seit zwanzig Monaten keinen Vorsitzenden. Auch keinen Doppelvorsitzenden. Nicht den kleinsten Rebellen. Nicht einmal ein winziges Nestbeschmutzerlein. Er urteilt, und beschließt, und urteilt, und beschließt … tausend Mal in 20 Monaten. Tausend Revisionen, die niemals ein Vorsitzender Richter auch nur von Ferne gelesen hat. Keine überlegene Sachkenntnis, keine Führungsstärke, keine Autorität qua Person (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23. Mai 2012, 2 BvR 610/12) kam ihnen zur Hilfe. Der revisionsführende Bürger ist, so könnte man denken, im Spiel der Giganten nun wirklich das Allerletzte, was interessiert. Legitimitätskrise? Selbst schuld.
Was lernten wir sonst noch? Nicht, was Sie denken, nämlich dass offenbar selbst die heiligsten Überzeugungen unter dem Vorbehalt des Opportunismus stehen. Oder dass die sublime Qualität des stählernen Bundesrückgrats seine Biegsamkeit im ganz großen Maßstab ist.
Wir bleiben stattdessen hiesiger, lockerer und konkreter: Selbst das allerhöchste der rechtsstaatlichen Rechte, das auf den Gesetzlichen Richter, ist Schwankungen unterworfen. Die jeweils einzig richtigen Entscheidungen werden halt einmal per Lautsprecher und eigenhändig-präsidentieller Pressemitteilung verkündet, ein andermal nicht – wie das Schicksal halt spielt und das hohe Gut der richterlichen Zurückhaltung es gebietet. Auch Präsidenten sind Menschen.
Beim Bundesgerichtshof hat eine entscheidende Zahl von Richtern und Mitgliedern des Präsidiums zwischen 2012 bis 2016 ihre Rechtsansicht geändert und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die 2012 als alternativlos richtig angesehene Meinung falsch war: Selbstverständlich darf ein Senat beliebig lange auch von einem "Stellvertretenden Vorsitzenden" geleitet werden. Die Behauptung, dies sei "verfassungswidrig", mag vertretbar gewesen sein – zwingend war sie nie! So etwas Ähnliches hatten die "Nestbeschmutzer" aus dem 2. Strafsenat vor vier Jahren zu sagen versucht.
Der Vorgang zeigt überdies, wie wenig selbstgefälliges Aufheben der Bundesrichter macht von der Gewinnung und Änderung seiner Rechtsüberzeugungen, selbst wenn sie grundlegende Rechtspositionen von Bürgern und Richterkollegen so substanziell betrafen wie hier. Juristen sind halt – selbst in höchsten Ämtern – entschieden in der Sache, zurückhaltend in der Form, vergesslich vielleicht im Wesen, doch stets rein im Gewissen.
In die Verhandlung des Richterdienstgerichts, die sich einst mit den Beschwerden der Dissidenten aus dem 2. Strafsenat befasste, war vom Präsidenten eine Wissenschaftliche Hilfskraft entsandt, die die Zuschauer aus dem Haus namentlich aufschrieb und ihre Verweildauer notierte. Nichtrichterlichen Bediensteten wurde später vorgehalten, sie hätten "offenbar Zeit gehabt", von 09.32 bis 11.30 Uhr (statt ihre Arbeit zu tun) der Verhandlung beizuwohnen. Von 120 BGH-Richtern nahmen die Gelegenheit, an jener ersten jemals geführten öffentlichen Verhandlung über die Grenzen der Eingriffsbefugnis eines BGH-Präsidenten teilzunehmen, insgesamt zehn wahr. Der Rest bearbeitete Akten und hatte keine Zeit für Kinderkram. Mittags gab's Leberkäs mit Schwenkkartoffeln.
Bleibt ein Blick auf die ihrer knallharten Recherche wegen zu Recht gerühmte Karlsruher Justizpressekonferenz (JPK): Hier folgt Jour fixe auf Jour fixe, Riesling auf Spätburgunder. Wer wird wann was?, ist das Thema der rechtspolitischen Schlaflosigkeit. Mein Gott, wer wird die Landau-Stelle kriegen? Und wer die nächste? Und welchen Bundespräsidenten müssen die Grünen wählen, damit sie danach auch mal wieder dran sind beim Verfassungsdings? Wer kennt jemanden, der einen kennt, der Herrn Abgeordneten Krings hat lächeln sehen? Oder Frau Abgeordnete Cypries die Stirn runzeln? Letztere sind, liebe Leser, keine geringeren als Phoebos Apollon und Pallas Athene im Kampf der zwei Weltenmächte: Schwarz und Rot, Rot und Schwarz. Wie zwei Teufel aus der Haribo-Dose.
Justizpresskonferenz: Keine Welle kräuselt die Oberfläche. Nicht eine einzige Frage an die Mehrheit drängt sich auf. Ihre Neujahrsrede widmete die wie immer sachkundige Vorsitzende der Frage, ob der Kolumnist die Presse unangemessen kritisiere. Hin und wieder kommt nun ein ganz innovativer Reporter und fragt in die Runde: Wie viele Freunde haben Sie am Bundesgerichtshof? Da träumen dann alle schwer: Rebellen, Riesen, Zwerge und Trolle.
Abspann:
Zum Hauptfilm, liebe Zuschauer, kommen wir angesichts der ausufernden Form unserer Vorfilme heute nicht mehr. Er wäre bestimmt spannend gewesen. Alle Eintrittskarten gelten weiter. Wir sagen rechtzeitig Bescheid.